Alter eines Schreibtisches

marcus_n

ww-robinie
Registriert
23. August 2020
Beiträge
2.306
Ort
Augsburg
Warum zu deiner Schande? Es ist das Privileg der Jugend zu revoltieren. Es ist ihre Pflicht. Schon die alten Griechen wussten das. Warum verschwendet die heutige Jugend das? Weil ihnen eingetrichtert wurde, dass sie so früh wie möglich in die Arbeitswelt entlassen werden, um nahtlos ihre Karriere zu beginnen? Weil jeder Tag Renteneinzahlung zählt? Was für eine Roboterwelt ist das? Wo bleibt die Freiheit sein Leben selbst zu bestimmen? Wo bleibt das süsse Nichtstun? Wo bleibt der Widerstand? Wo sind sie, die Künstler, die Punks, die Wilden, die Spinner, die Intellektuellen, die Durchgeknallten? Heute zählt nur noch: Mein Haus, mein SUV, meine Familie, meine Rente, mein Urlaub auf Malle, meine Formatkreissäge, mein Rasenroboter.
Die Jugend möchte Selbstoptimierung. Aber sie hat keine Ahnung von Individualität. Tun und lassen was man will. Das gibt es nicht mehr.
Und warum kauft diese auf Nachhaltigkeit getrimmte Jugend keine alten Möbel, sondern geht zu XXl Lutz und Segmüller und Ikea?
Ich hab mich verrannt. Schönes WE. Allerbeste Grüße.
 

Besserwisser

ww-robinie
Registriert
16. August 2010
Beiträge
3.045
Ort
NRW
Ich finde aber vor allem das steigende Interesse an 50er Jahre Möbeln interessant. Das war für meine Generation immer der Ausdruck des biederen Piefkes. Heute reissen sich alle darum.

Das sehe ich anders.
50er Möbel in Gelsenkirchener Barock finden auch heute keine wirklichen Lierbhaber, absolute Aussenseiter mal aussen vor. (Wortspiel!)
Was beliebt ist sind die Werke unserer gestalterischer Ahnen. van der Rohe, Breuer, Rietveld, Eames', Corbusier, Perrinand, Panton etc.
Deren Entwürfe und Formensprache gilt noch heute und genau deshalb, weil sie die Ersten waren. Deren Philosophie wird heute noch jedem Archi gelehrt. Wobei man nicht vergessen darf, dass zB im Spannagel viele Möbel drin sind, die so weit gar nicht zB von den Skandinaviern weg sind.
Und: Ein 50er Teaksideboard hat 100% Gebrauchstauglichkeit. Das kann man von der Barockkommode nur eingeschränkt behaupten. Und das Furnier der Biedermeiersekretäre reisst überall, weil die einfach Rahmen und Füllung überfurniert haben. (Ja, nicht bei jedem Stück, habe ich aber schon mehrfach gesehen).
Übrigens gehen diese Midcenturysachen sehr gut beim Alter zwischen 25 und 40, wenn man hip sein will.
 

andama

ww-robinie
Registriert
13. Dezember 2007
Beiträge
4.087
Ort
Leipzig
Ich muss gestehen, dass mir alte Möbel auch gefallen und ich auch mit welchen lebe. Allerdings mag ich das schlichte nicht üppig verzierte Möbel.
 

marcus_n

ww-robinie
Registriert
23. August 2020
Beiträge
2.306
Ort
Augsburg
@Besserwisser Ah ich glaub, das wir da gar nicht so sehr auseinander sind. Ich hatte da vielleicht andere Bilder im Kopf. Die Architekten und Gestalter, die du aufgeführt hast, waren intellektuelle Avantgardisten. Die haben nicht für die Masse produziert. Das war auch damals schon ziemlich expensive und rar. Gerade die Eames Stühle wurden erst sehr viel später einer breiteren Masse zugänglich. Und die Eames Brüder haben in den vierzigern ihre ersten großen Erfolge gefeiert. Rietfeld, Mies van der Rohe, das Bauhaus, das waren damals abgedrehte Spinner, von denen der Kumpel in Essen keine Ahnung hatte. Erst in den sechzigern kam ja diese Massenkompatibilität des Designs auf. Die Palmentapeten, die italienischen Future Möbel, die Eisbärenfummelteppiche, Orange!!! Alles war Orange! Ich hab noch Brotschneidemaschine und Wecker in der Farbe. Das war eine positive Zeit, verspielt, zukunftsorientiert, kindlich naiv, spacig.
Kunstepochen sind ja immer zwiegespalten. Es gibt die Avantgarde, die Moderne und das Etablierte und Konservative. Selbst zu Leonardos und Michelangelos Zeiten.
Spannend finde ich immer die Farbigkeit der Möbel. Mal bunt, mal monochrom, hell, dunkel. Die schweren norddeutschen Schränke, fast schwarz und wuchtig, dann das helle skandinavische Design, hyggelig, Landhausstil.

Gebrauchsdesign, intellektuelle Gestalter, wertige Entwürfe, die Jahrzehnte vorhalten und ganze Generationen prägen, aber dann auch wieder billiger Massengeschmack, der trotzdem wirkt. Alles so komplex, so verwirrend, so durcheinandergewürfelt. Das Billie Regal - unfassbar - Jahrzehnte hat es durchgehalten, optisch immer gleich, inhaltlich ständig anders. Die ersten Billie Regale sind ja fast doppelt so schwer, wie die aktuellen.

Der Sperrmüll. Früher konnte man wahre Schätze aus dem Sperrmüll ziehen. Stühle, Regale, Kommoden, die Geschichte geschrieben haben. Heute stehen am Straßenrand nur noch zerbrochene Badmöbel, verbogene Bügelbretter und Plastiknachtkästchen.

Möbel begleiten die breite Gesellschaft seit etwa dem Barock, ganz intensiv seit der Industrialisierung (1840er). Vorher waren Möbel exklusiv und äusserst reduziert auf eine gesellschaftliche Elite.
Was sind Möbel heute? Funktional, Statussymbol, meinungsbildend? Ein Statement? Man richtet sich heute wesentlich bewusster ein als früher. Heut muss es immer wie in einem Magazin, schöner Wohnen, aussehen. In der Stadt ganz anders, als auf dem Land. In der Provinz anders, als in einer Künstlerwohnung in Berlin oder Leipzig.
Möbel sind Alltag und Meinung in einem. Sie sind ein Zeichen, ob man bewusst lebt oder nur nutzt.
Ich fand es immer Klasse in Frankreich, Italien, oder Spanien in Häuser oder Wohnungen eingeladen zu werden. Weil es da selbst bei jungen Leuten viel normaler ist inmitten richtig alter Möbel zu leben. In Deutschland ist im Krieg unglaublich viel zerstört und zerbombt worden. In Frankreich auf dem Land hat sich das alles erhalten und man geht viel unverkrampfter damit um.

Ich fand das ja sehr scharf, dass der DDR Wohnzimmerzisch (Multifunktionstisch, ähnlich Festool MFT)l so ein Revival erlebt. Das hätte damals niemand als Designikone tituliert.
 

irrlicht

ww-nussbaum
Registriert
15. Januar 2021
Beiträge
81
Ort
Irgendwo
Morgen,
mal so ein Kommentar aus dem off, das ist der witzigste Fred den ich bisher in diesem Forum gelesen habe, hab arg lachen muessen.
...und nicht nur das, auch nachdenken.
Danke.

Gruss Harry
 
Oben Unten