Tipp für berufliche Orientierung

odunyarmak

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hallo woodworker,

habe ein "problem": möchte tischler werden, bin aber schon 44! und das kam so: war 12 jahre als journalist/öffentlichkeitsarbeiter tätig (davor geschichtsstudium absolviert), wurde dann arbeitslos, und begann im herbst 2010 eine umschulung zum ergotherapeuten (von der Agentur für Arbeit gefördert).
bei der ergo-umschulung erlebte ich zweierlei: eine große begeisterung bei den praktischen fächern (vor allem bei den holzarbeiten), und schlaflose nächte, weil mich der ganze theoriequatsch samt biologie und krankheitsbilder nicht die bohne interessiert und ich befürchte, den fehler meines lebens zu machen (=arbeit, die mich nicht befriedigt). bei den holzarbeiten habe ich eine sehr große befriedigung erlebt durch die kombination aus entwerfen, austüfteln und das praktische umsetzen des plans ... und wenn ich dann das fertige werkstück ansehe, bin ich einfach happy!
vielleicht sollte ich noch dazu sagen, dass ich vor meinem studium aushilfsweise in einer holzwerkstatt gejobbt habe (ist fast 20 jahre her), und daheim schon diverse sachen aus holz gebaut habe (Holzunterstand, Hocker, mehrere Regale - sieht jedoch alles nicht dolle aus, weil mir verrnünftiges Werkzeug fehlte und kein richtiger Arbeitsplatz vorhanden ist).
jetzt meine fragen: ist es realistisch in meinem alter den quereinstieg ins holzhandwerk zu wagen? wie bewerkstellige ich am besten den eventuellen quereinstieg? gibt es möglichkeiten, eine tischler-ausbildung zu verkürzen? wie sind generell die aussichten im tischler-bereich?
würde mich sehr über eure meinung freuen!
 

yoghurt

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Hallo odunyarmak,
generell sind die Aussichten für Tischler in und um Berlin eher mäßig. Es gibt Jobs und es gibt auch Geld - aber von beidem eher wenig. Zu dem Thema findest Du einiges, u.A. in meinen Beiträgen.
Der Quereinstieg...
Ich weiß nicht, ob Du Dich von der Arbeitsagentur fördern lassen könntest - das wirst Du selbst am Besten herausfinden. Wenn ja, gibt es in Berlin eine große Menge überbetrieblicher Ausbildungsstätten die die Ausbildung anbieten. Da hättest Du aber während Deiner Ausbildung überwiegend mit Jugendlichen zu tun, von denen einige soziale oder sonstige Defizite bzw. Probleme haben.
Auf der anderen Seite gibt es in Berlin eine bunte Tischlerlandschaft aus kleinen Krautern und mittleren Betrieben. Vielleicht findest Du ja (mit viel persönlichem Engagement) einen Ausbildungsplatz. Ich habe schon von Leuten Deines Alters (und Älteren!) gehört, dass sich Betriebe finden ließen. Das waren dann Konstellationen bei denen der Meister alleine gearbeitet hat und selbst schon älter war. Diese Meister bilden oft nicht aus und haben auch keine Lust sich mit Teenagern zu befassen. Hier musst Du persönlich vorsprechen und Deine Position gut an den Mann (oder die Frau) bringen.
Das Verkürzen:
Verkürzen geht prinzipiell. Notwendig sind entsprechende Leistungen und vorangegangene Schulabschlüsse. Die Verkürzung bedarf der Genehmigung der Handwerkskammer und der Betrieb muss natürlich einverstanden sein. Du kannst ein halbes oder evtl. sogar ein ganzes Jahr verkürzen.
Leider kann ich Dir jetzt keine Adressen nennen - denn ich weiß einfach niemanden.

Gruß und viel Glück

Heiko
 

heiko-rech

ww-robinie
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Hallo,

ich würde dir zunächst einmal ein Praktikum bei einem Tischler empfehlen. Mir scheint du hast noch eine leicht verklärte Vorstellung vom Beruf. Die Jobs, bei denen du vom Entwurf bis zum Einbau alles selbst machen kannst, sind sehr dünn gesät.

Der Arbeitsalltag sieht nicht so aus. Klar, es gibt Stellen, wo du richtig tolle Möbel mit feinen Materialein bauen kannst. Aber bis du dazu die Fähigkeiten hast und nachweisen kannst, ist es auch ein langer Weg. Du wirst vorher vermutlich so einige Plattenschränke bauen, Fenster und Türem montieren etc.

Ich kenne auch keinen Tischler, der mit seiner Arbeit reich geworden ist :emoji_grin:

Bevor du dich also nun neu orientierst, schau dir den Beruf erst einmal richtig an, sonst stehst du in einem halben Jahr vielleicht wieder an der gleichen Stelle wie jetzt gerade.

Gruß

Heiko
 

Stick69

ww-esche
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Hi,

ich gebe Heiko vollkommen recht, die meisten haben diesen leicht romantischen Blick auf den Tischlerberuf (in Fachkreisen Meister Ederitis) , welcher in der Regel nicht der Realität entspricht. Ich kenne aus meinem Umfeld keinen Betrieb, wo die Leute noch hochwertige oder sagen wir besser schöne, spassbringende Möbelstücke von Anfang bis Ende selbst bauen. In der Regel sind die Betriebe soweit arbeitsteilig organisiert, dass man nur noch einen von in der Regel 4 Teilbereichen ( Maschinenraum-Oberfläche-Montage-Auslieferung) zu erledigen hat, und seinen Kram dann weitergibt in die nächste Abteilung. Und um einen der raren 'Meister Eder' Jobs zu bekommen, braucht's schon einiges an Erfahrung und Können.
Vom Fenster- und Trockenbau will ich jetzt garnicht anfangen.

Bitte versteh' mich nicht falsch, der Tischlerjob ist immer noch eine schöne Sache, kann aber öfter als man denkt ziemlich hartes Brot sein, deshalb sollte so eine Entscheidung gut durchdacht sein. Ein längeres Praktikum wäre da sicher eine wertvolle Entscheidungshilfe.:emoji_slight_smile:

so long

Stick
 

odunyarmak

ww-pappel
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Hallo yoghurt, heiko-rech und stick69,

danke vielmals für eure antworten und realistischen einschätzungen; werde mich schlau machen zwecks praktikum und dann weitersehen.

herzliche grüße und euch einen schönen sonntag
 

spn

ww-pappel
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bei den holzarbeiten habe ich eine sehr große befriedigung erlebt durch die kombination aus entwerfen, austüfteln und das praktische umsetzen des plans ... und wenn ich dann das fertige werkstück ansehe, bin ich einfach happy!

Was Du beschreibst, ist für viele der Grund, mit höchster Motivation eine Tischlerlehre zu beginnen und zu überstehen.
Zur "Belohnung" dafür gibt es dann spätestens nach deren Abschluß oft die ernüchternde Antwort auf genau Deine Frage:

wie sind generell die aussichten im tischler-bereich?

Die Aussichten, bei entsprechender Eigeninitiative und stoischer Ausdauer das zu erlernen, was Du wie oben zitiert beschreibst, sind gut.
Die Aussichten jedoch, genau das im Beruf wiederzufinden, auszuüben und damit die nächsten 20+ Jahre Deinen Lebensunterhalt zu verdienen, sind leider extrem schlecht.

Tischler sind immer gesucht, Du kannst also immer Arbeit finden. Ein Blick in die Jobbörse der Agentur für Arbeit genügt: Für Tischler gibt es Stellenangebote en masse.
Die Frage ist nur, ob Du bereit [und physisch in der Lage] bist, unter den damit verbundenen Bedingungen zu arbeiten:
  • 6-8 € Stundenlohn (in Berlin).
    Wenn Du Dich nach einer Weile Berufserfahrung hochgearbeitet hast, sind vielleicht auch eines Tages 9 € - 9,50 € drin.
    Bitte rechne Dir aus, was das als Nettolohn ergibt und überlege Dir, wie viele Jahre Du wieviel Idealismus aufbringen kannst.
    Bitte denke an Freunde und Bekannte und deren berufliche Tätigkeiten und überlege Dir, wie lange Du es als befriedigend und gerecht empfinden wirst, daß sie evtl. jeden Tag im schönen warmen Büro sitzen und dafür das Dreifache verdienen, während Du Dir irgendwo in der Kälte die Knochen ruinierst und dafür jeden Monat knapp so viel erhältst, daß Du gerade so über die Runden kommst.
    Bitte überlege Dir, wie sich das ein ganzes Jahr lang jeden einzelnen Tag anfühlt und wie groß Deine Lust darauf ist. Und dann noch ein Jahr. Und noch eins. Und anschließend die Aussicht auf viele weitere gleiche Jahre. Bitte vergiß dabei nicht, daß Deine körperliche Leistungsfähigkeit im Laufe der Zeit nachläßt und sich von Idealismus allein auf Dauer eher schlecht leben läßt.
  • Überstunden, Überstunden, Überstunden.
  • Schwere körperliche Arbeit.
  • Arbeiten mit schmutzigen, giftigen, stinkenden, gesundheitsschädlichen Materialien.
    Weit verbreitetes Beispiel: Lackieren ohne Absaugung und ohne Filtermaske. Jeden Tag.
  • Arbeit auf Baustellen, im Sommer wie im Winter. Zusammen mit anderen "Bauarbeitern".
  • Je nach Arbeitsstelle Wechselschichtdienst und Wochenendarbeit.
  • Je nach Arbeitsstelle Bereitschaft zu bundesweiter oder gar europaweiter Montagetätigkeit.

Die Mischung aus Denken, Entwerfen, praktischer Umsetzung und Nützlichkeit plus der Umgang mit Holz sind das, was den Beruf attraktiv und in der Tat befriedigend und schön machen. Nur leider ist in der Arbeitsrealität in dieser Form kaum je Platz dafür; sie sieht weniger "romantisch" aus:

Du mußt Dir im klaren sein, daß Du als Tischlergeselle vor allem Befehlsempfänger bist (Entwerfen und "Austüfteln" gehören eher nicht zu Deinen Aufgaben).
Daß Du die meiste Zeit dafür da bist, schweres Zeug durch die Gegend zu schleppen (Beispiel: alles, was gebaut wird, muß beim Kunden auch eingebaut werden; visualisiere Möbelpacker, Umzugsunternehmen u.ä.).
Daß Du unter permanentem Zeitdruck arbeiten mußt (keine Zeit für kopflastige Lösungen, Tüfteleien, Überlegungen) und alles immer noch schneller gehen muß.
Daß ein Großteil auftretender Probleme physisch gelöst wird.
Daß Du jeden Tag mit Kollegen zusammenarbeiten wirst, die evtl. in einem anderen Universum leben als Du (die meisten haben nicht Geschichte studiert und als Journalist gearbeitet) und u.U. nicht akzeptieren können, wenn Du auf irgendeine Art und Weise "anders" bist. Das gilt insbesondere auch für Deine Chefs.
Daß Du als Tischlerlehrling [in Berlin] in den meisten Firmen genau nichts wert bist und Deine einzige Daseinsberechtigung die ist, daß Du drei Jahre lang als billige Arbeitskraft zur Verfügung stehst.
Daß Du als Tischler "nur" ein Handwerker bist und das mit einem bestimmten Platz und Status in der Gesellschaft verbunden ist. -- Darüber läßt sich ganz leicht so lange lachen und hinwegsehen, bis man feststellt, daß man von anderen Leuten(Kunden, Ämtern, Ärzten etc.) in eine Schublade gesteckt und dieser entsprechend angesprochen und behandelt wird.
Daß Tischler auch vergammelte Fenster, ranzige verdreckte Küchen und abgenutzte Fußböden reparieren. Nicht alles wird neu gebaut. Nicht alles wird aus Holz gebaut. Stichworte: Spanplatte, alte Lacke abkratzen, schleifen, schleifen, schleifen, spachteln, lackieren, Schimmel, Würmer, Käfer...


Soweit ein paar Gedanken. Sie klingen vermutlich erst einmal wenig motivierend, aber ich habe mir Mühe gegeben, nicht pauschal zu meckern, sondern Dir Dinge aufzuzählen, die zur Arbeitsrealität des [Berliner] Tischlerdaseins gehören. -- Denn das meiste davon weiß man einfach vorher als Außenstehender nicht und bis man es erfahren hat, ist es im Prinzip schon zu spät.
Die "Kombination aus Entwerfen, Austüfteln und das praktische Umsetzen des Plans" ist immer noch eine tolle Sache und ein gutes und nützliches Möbel o.a. zu bauen nach wie vor unglaublich befriedigend. Wirklich. Nur gibt es eben auch noch die "reale Arbeitswelt" sowie das Problem, daß man von irgendetwas seinen Lebensunterhalt bestreiten muß.
Jeder muß für sich selbst abwägen, inwieweit er mit den Diskrepanzen zwischen Alltagsrealität und idealistischem Wunschbild voraussichtlich klarkommt oder auch nicht und in welchem Ausmaß er kompromißbereit und auch kompromißfähig (siehe körperliche Belastungsgrenzen) ist.
Den Vorschlag meiner Vorredner, zu diesem Zwecke ein längeres(!!) Praktikum zu absolvieren, halte ich für einen wirklich sehr sinnvollen Vorschlag.
 

yoghurt

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Hallo odunyarmak, hallo spn,
wie wäre es, wenn wir uns mal auf ein Kaltgetränk treffen? Ich kann spn nur bestätigen, sehe trotzdem einiges optimistischer...
PN (Private Nachrichten) gehen ab 5 Beiträgen und wären da geeignete Mittel zu einer Verabredung.

Gruß

Heiko

PS: ich habe dringend das Bedürfnis einen Praktikanten auszubeuten....
 

odunyarmak

ww-pappel
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@spn - prima auflistung, die ganzen negativen punkte des berufslebens auf einen blick; das hilft mir auf jeden fall bei meiner entscheidungsfindung; tausend Dank!

@yoghurt - kaltgetränk herzlich gerne, nur diese woche geht nischt mehr. evtl. 1. juli-woche?
 

HendrikW124

ww-eiche
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Wenn Du krativ zaubern lernen willst (und dabei lernen willst, wie man schier unmögliche Dinge doch realisieren kann): mach einfach mal Messebau:emoji_grin:

Wird auch meist besser bezahlt als der arme Tischlergeselle in der Werkstatt:emoji_wink:

Gruß

Hendrik
 

vor-werk

ww-pappel
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Hallo,

ich stand bis vor einiger Zeit vor einer ähnlichen Situation:

Mit 36 Jahren und 12 Jahren im Vertrieb eines großen Software-Herstellers
ausgebrannt (Burn-Out), mit allem was dazu gehört. Ein starker Wunsch nach einer zufriedenstellenden Arbeit, bei der man am Ende des Tages das Gefühl hat
etwas Gutes "produziert" zu haben (und nicht nur neue Probleme - wie früher) sowie
eine Affinität zum (Holz-) Handwerk motivierten mich die Möglichkeit nach einer zweiten Ausbildung zu durchleuchten. Mit Unterstützung der DRV beginne ich nun (01.08.2011) ein Umschulung zum Tischler in meinem Wunschbetrieb.

Was ich im Vorfeld getan habe: Ganz viel Praktikas (in Summe 5, hatte eh Zeit - war ja AU) in z.T. sehr unterschiedlichen Schreinereien, von dem kleinen Dorfschreiner-2-Mann-Betrieb mit Bestattung über eine Schreinerei in einer Behindertenwerkstatt bis zu einem großen Betrieb mit über 25 MA. Damit wollte ich einfach die hier schon angesprochene Ederitis bekämpfen und mir ein genaues Bild über den Arbeitsalltag machen.
Daraufhin habe ich mich in 10 Schreinereien beworben, 5 davon hatten ihren Azubi für 2011 schon (und das im Okt. 2010), die anderen 5 hätten mich genommen. Letztendlich habe ich mich für den großen Betrieb entschieden, da der Chef dort genau erkannt hat, was ich suche und wie er mich nach der Ausbildung fördern und einsetzen kann.

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Arbeitsagentur und DRV. Vor allem wenn sie Dir schon mal eine Umschulung finanziert haben wird es schwer werden, sie davon zu überzeugen, dies noch mal zu tun.
Kann auch sein, dass Du auf die Unterstützung nicht angewiesen bist, das ist natürlich der Idealfall. Dann kann ich Dir nur raten Dich mit voller Motivation persönlich (nach Terminabsprache) vorzustellen. Ich habe erlebt das viele Meister und Inhaber die Schnauze von minder begabten und unmotivierten Schulabgängern voll haben und froh sind wenn sie jemanden vor sich haben, der aus vollster Überzeugung Schreiner werden will.

Justmy2Cent (wie der IT-ler sagen würde :emoji_wink:)

Sorry für den langen Text.


Gruß,
V-W
 

yoghurt

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@spn - prima auflistung, die ganzen negativen punkte des berufslebens auf einen blick; das hilft mir auf jeden fall bei meiner entscheidungsfindung; tausend Dank!

@yoghurt - kaltgetränk herzlich gerne, nur diese woche geht nischt mehr. evtl. 1. juli-woche?

Hi,
wie spn schon erwähnte, gibt es Phasen mit zu viel Überstunden.... Ich wollte das mit den Kaltgetränken noch mal aufgreifen.

Verabredung per PN?

Gruß

Heiko
 
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